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Channel: Kommentare zu: Sathya Sai Baba: Tod eines Wundergurus
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Von: Tim S.

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“Das ist eine Manipulation, keine Verschwörung. Es fehlt hier zum Beispiel der Aspekt des Illegalen, d.h. rechtswidrigen.”

Das ist im Übrigen schlichtweg falsch, denn das deutsche Strafrecht kennt, anders als etwa der angelsächsische Raum, keinen Straftatbestand namens “Verschwörung”.

Wikipedia definiert Verschwörung als “heimliches Bündnis mehrerer Personen mit dem Zweck, einen Plan auszuführen; dieser kann ein selbstsüchtiges, verwerfliches Ziel haben und den Schaden anderer beinhalten, aber auch die Beseitigung tatsächlicher oder vermeintlicher Missstände umfassen. Eine Verschwörung beruht also nicht notwendigerweise auf moralisch niederen Motiven, sie basiert jedoch stets auf Geheimhaltung und Konspiration.”

Eine clevere Abrechnung mit der These, wir dürften Verschwörungstheorien weder glauben noch untersuchen, liefert Pidgen, Charles: Conspiracy Theories and the Conventional Wisdom. Episteme: A Journal of Social Epistemology, 4:2, pp. 219-232.
http://philpapers.org/archive/PIGCTA.pdf

Dass der Begriff “Verschwörungstheoretiker” eine stigmatisierende Diskursstrategie darstellt, um unerwünschte Positionen schon im Vorfeld als vermeintlich lächerlich zu brandmarken, wird klargestellt in: Husting, Ginna; Orr, Martin: Dangerous Machinery: “Conspiracy Theorist” as Transpersonal Strategy of Exclusion. Symbolic Interaction 30.2 (2007): 127-150.

Wer Verschwörungstheorien für irrational hält, sollte sich darüber im Klaren sein, dass die Deutung, Al-Qaida-Terroristen hätten am 11. September Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, auch eine Verschwörungstheorie ist – allerdings natürlich eine, die sich als wahr herausgestellt hat, im Unterschied etwa zur Behauptung, die Amerikaner seien nie auf dem Mond gewesen. Doch das ändert nichts am Status der Theorie: “Nach positivistischem Verständnis sind Theorien mit dem Anspruch verknüpft, sie durch Beobachtungen (z. B. mittels Experimenten oder anderer Beobachtungsmethoden) prüfen zu können (Empirie). Diese Beobachtung liefert dann direkt die Wahrheit oder Falschheit der Theorie, d.h. sie verifiziert (bestätigt) oder falsifiziert die Theorie.” (Wikipedia). Die Theorie von Al-Qaida als Urheber der Terroranschläge vom 11. September ist wahr – also verifiziert. Das ändert aber nichts an ihrem wissenschaftheoretischen Status: Sie ist – auch wenn sie zweifelsfrei wahr ist, was ich nie leugnen würde – trotz allem rein wesensmäßig eine Theorie, allerdings eine wahre Theorie. Die Mondlandungslüge ist eine – falsche – Theorie, die falsiziert wurde. Beiden Aussagesystemen aber teilen das Merkmal, dass sie ein Bündel von Behauptungen und Aussagen über Geschehnisse in der Welt sind. Diese Definition reicht meines Erachtens vollkommen hin, damit sich eine Theorie auch Theorie nennen darf. Auf den Wahrheitsgehalt kommt es also für eine solche Definition nicht an. Auch die Phlogistontheorie hat sich als falsch erwiesen, bleibt aber nach wie vor von ihrem wissenschaftlichen Charakter her eine Theorie, wenn auch eine, die sich als falsch erwiesen hat.

Das Kriterium, dass sich Verschwörungstheoretiker irren und Falschaussagen treffen, reicht nicht, um Verschwörungstheorien zu verdammen. Es besteht in unserer Gesellschaft keine Pflicht, wahre Aussagen zu treffen – NUR in ganz speziellen Diskursformen ist dies so, etwa wenn der Diskurs ein wissenschaftlicher ist (denn würde jeder Forscher lügen, würde der Wissenschaftsbetrieb aufhören zu existieren) oder vor Gericht (denn wenn man dort lügt, macht man sich strafbar). Es mag weitere Diskursformen geben, in denen es eine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen. Aber dennoch gibt es auch viele diskursive Rahmen, in denen man nicht unbedingt die Wahrheit sagen muss – etwa, wenn ein Politiker im Wahlkampf gewinnen will oder aber ein Künstler vor seinem Bild steht und behauptet, sein Gemälde drücke Gefühl XY aus. Im Beispiel des Künstlers etwa trifft er – der Künstler – auch eine Aussage, die im wissenschaftlichen Sinne nicht falsifizierbar ist (“Dieses Gemälde drückt für mich unendliche Harmonie aus”), aber trotzdem kriegt er nicht wütende Anrufe von Skeptikern, die ihm Pseudowissenschaftlichkeit vorwerfen. So gesehen bewegen sich Verschwörungstheoretiker mit ihren Behauptungen im öffentlichen Raum, und in diesem muss man nicht unbedingt die Wahrheit sagen, dies gilt nur, wie bereits gezeigt, für einige spezielle diskursive Formen. Autoren von Fantasy-Roman etwa treffen in ihren Werken auch keine wahren Aussagen und niemand nimmt ihnen dies Übel.

Gäbe es überdies hinaus keine Verschwörungstheorien, würde das einen immensen kulturellen Verlust bedeuten, denn Verschwörungstheorien haben bedeutende kulturelle Erzeugnisse hervorgebracht, egal ob nun Filme wie Independence Day (in einer Szene besucht der Präsident der Vereinigten Staaten Area51) oder die Werke von Dan Brown.


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